16.5.2017, 12 Uhr

5 Fragen an die Kuratorin Sandra Wagner-Conzelmann zum Architekten Otto Bartning

Die Ausstellung „Otto Bartning (1883–1959). Architekt einer sozialen Moderne“ stellt das Œuvre des Architekten und seine Vernetzungen in Kunst, Kultur und Politik erstmals in einer umfassenden Retrospektive vor. Ein Gespräch mit der Kuratorin Sandra Wagner-Conzelmann.


Was begeistert Sie an Otto Bartnings Werk?

Sandra Wagner-Conzelmann: Seine Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit! Otto Bartning war nicht nur als Architekt tätig, sondern auch als Programmatiker, Organisator und Netzwerker. Und das in ganz unterschiedlichen Bereichen: im Kirchenbau, bei der Errichtung von Sozialbauten, im Kunst- und Kulturbereich. Besonders spannend finde ich die Arbeiten, bei denen bauliche Innovationen und Konstruktion mit der Nutzung der Architekturen eng zusammenspielen. Als Beispiel ist hier der Entwurf der Sternkirche von 1922 zu nennen: Ein Bau für die Gemeinschaft und gleichzeitig ein Notbau, für den ein ökonomischer Umgang mit Baumaterialien und finanziellen Ressourcen Grundbedingung war. Spannend ist zudem die Stahlkirche von 1928, deren Stahlträger auch im Innenraum unverkleidet blieben und so zur Gestaltung beitrugen. Das war im Kirchenbau etwas völlig Neues.

Was erwartet die Besucher in der Ausstellung?

Sandra Wagner-Conzelmann: Anhand Bartnings Leben und Werk reist der Besucher in der Ausstellung durch vier Epochen deutscher Geschichte: Geboren und geprägt in der Kaiserzeit, wurde Bartning in der Weimarer Republik einer der führenden Architekten und Programmatiker der Moderne. Während des Nationalsozialismus zog er sich aus der Öffentlichkeit weitgehend zurück und baute Kirchen, und nach 1945 war er entscheidend am Wiederaufbau beteiligt. Diesen Weg zeigen wir großteils durch Archivalien aus dem Otto-Bartning-Archiv der TU Darmstadt, die hier erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich sind: persönliche Schriften und Zeichnungen, außerdem Fotos von Bartnings Bauten und Architekturmodelle. Bartnings expressionistischen Entwürfen stellen wir wunderbare Aquarelle von Volkshäusern und Kultbauten von Hans Scharoun und Bruno Taut aus dem Archiv der Baukunst der Akademie der Künste spannungsreich gegenüber. In der Ausstellung kann man Otto Bartnings Werk auch digital erkunden: Auf einer interaktiven Landkarte lassen sich beispielsweise alle sogenannten Notkirchen ergründen. Nach 1945 hat Bartning in ganz Deutschland – in Westdeutschland wie auch in der sowjetisch besetzen Zone und später in der DDR – 43 evangelische Kirchen gebaut. Es waren Montagebauten aus standardisierten Bauteilen, die die Gemeinden in Eigenarbeit mit Trümmermaterial ummauerten. Diese Notkirchen sind heute fast alle noch in Betrieb. Das ist in dieser Form ein einzigartiges Projekt in der Architekturgeschichte.

Die Ausstellung legt den Fokus auf das Thema „soziale Moderne“ in Bartnings Schaffen. Was genau steckt dahinter?

Sandra Wagner-Conzelmann: Otto Bartning hat stets für den Menschen und seine Bedürfnisse gebaut. Er wollte Räume für die Gemeinschaft schaffen. Das erkennt man nicht nur an seinen Kirchenbauten, sondern auch an seinen Sozialbauten und Krankenhäusern, die sehr progressiv waren. Bei der Frauenklinik in Darmstadt von 1952-54 beispielsweise war die Planung des gesamten Baus außerordentlich stark an den Bedürfnissen der Patienten und des Personals ausgerichtet – bis hin zur Stellung der einzelnen Betten in den Krankenzimmern –, ohne dabei funktionalistisch zu wirken. Vielmehr überwog die Harmonie der Formen, Materialien und Farben. Bartning nannte diese wohlkomponierten Räume auch „heilende Räume“.

Macht dieser soziale Aspekt Bartnings Schaffen und Denken heute so aktuell?

Sandra Wagner-Conzelmann: Ja! Das Notkirchenprogramm nach 1945 beispielsweise sollte denen, die nach Deutschland kamen und obdachlos waren – wie die Flüchtlinge heute –, Verortung geben. Das ist sehr aktuell. Besonders in der Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 stellte sich Bartning deutlich gegen die bauliche Rekonstruktion des Verlorenen, denn er mahnte an, dass Architektur stets gesellschaftliche Werte widerspiegeln und Zeitgenossenschaft ausdrücken solle. Sie dürfe keine Kulisse des Vergangenen sein. Auch das ist heute wieder sehr aktuell. Bartning forderte immer ein hohes Verantwortungsbewusstsein der Architekten, wenn sie Raum und Umgebung gestalteten.

Das galt auch besonders für Berlin. Was können Sie uns über die besondere Beziehung von Bartning zu dieser Stadt verraten?

Sandra Wagner-Conzelmann: Bartning selbst sagte, Berlin sei die Stadt, die ihm im Laufe seines Lebens ans Herz gewachsen sei. Er hat 1902 sein Architekturstudium in Berlin begonnen, hat die Reformen in der Kaiserzeit miterlebt und vorangetrieben. 1905 hat er sein Architekturbüro in Berlin gegründet und fast 40 Jahre lang geführt. In der Weimarer Republik hat er dort einige seiner wichtigsten Bauten errichtet – wie die Gustav-Adolf-Kirche in Berlin-Charlottenburg, die heute noch steht. Nach 1945 hat er sich stark für den Berliner Wiederaufbau engagiert. Sein wichtigstes Projekt war die Leitung der Internationalen Bauausstellung Interbau 1957, die er ab 1954 maßgeblich mitgestaltet hat. Bartning wurde 1955 städtebaulicher Berater und war so an fast allen Entscheidungen, die für den Wiederaufbau Westberlins getroffen wurden, beteiligt: beispielsweise an dem Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, am Wettbewerb für den Neubau der Philharmonie, den letztendlich Hans Scharoun gewann, und auch an dem Umgang mit dem kriegszerstörten Reichstag.

Interview: AdK

Sandra Wagner-Conzelmann ist Kuratorin der Ausstellung „Otto Bartning (1883–1959). Architekt einer sozialen Moderne“, die noch bis 18. Juni in der Akademie der Künste am Hanseatenweg gezeigt wird.