Blechdose von Paul Westheim, aus einem Internierungslager

Blechdose von Paul Westheim, aus einem Internierungslager, 1939/1940

Warum nimmt man eine solch kleine, unscheinbare Konservenbüchse mit ins mexikanische Exil und bewahrt sie ein Leben lang auf? Das eingeritzte „W“ weist auf den Eigentümer hin – Paul Westheim. Als er nach einer Odyssee durch mehrere französische Internierungslager Ende 1941 endlich in Mexiko ankommt, ist ihm wenig geblieben, was ihn an die Zeit in Europa erinnert: einige Dokumente und die Blechdose, die als Teller und Tasse gedient hat. Sie lässt die Vergangenheit noch einmal deutlich werden: Mit Kriegsbeginn gelten die deutschen Emigranten in Frankreich als „feindliche Ausländer“ und werden in Lagern festgehalten. Spätestens Ende September 1939 ist auch der 53-jährige Paul Westheim interniert und muss bis zum Dezember 1940 mit nur kurzer Unterbrechung in verschiedenen Camps leben. Wie anderen Künstlern und Intellektuellen nützt es ihm wenig, dass er ein politischer Flüchtling ist und 1935 aus Deutschland ausgebürgert wurde. In den Internierungslagern leben die Emigranten unter katastrophalen Bedingungen, es gibt kaum Wasser und sanitäre Anlagen, Krankheiten breiten sich aus, Lebensmittel sind äußerst knapp. Dazu kommt nach dem deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommen vom Juni 1940 die ständige Angst, ausgeliefert zu werden. Westheim befindet sich zunächst im Lager Francillon. Als er im Januar 1940 auf Initiative des PEN-Vorstandes frei kommt, ist er fast erblindet, da es an ausreichender medizinischer Versorgung mangelte. Im Mai 1940 wird er erneut interniert.

Vermutlich im Frühjahr 1942, wenige Wochen nach seiner Rettung und Ankunft in Mexiko, notiert Westheim seine Erinnerungen an den Aufenthalt in den Lagern: „Ich war in Frankreich in 10 camps, in Francillon, in Les Milles, in dem berüchtigten Lager von Gurs, um nur die schlimmsten zu nennen. Nur ein Lager ist mir erspart geblieben: Vernet, wo man die politisch Verdächtigen internierte.“ Da es Westheim im Exil an Papier fehlt, sind die dünnen Seiten eng und beidseitig beschrieben. Seine Augenerkrankung beeinträchtigt die Schrift zusätzlich. So lassen sich nur Bruchstücke entziffern. „Das Grauenhafteste an Ernährung war in Gurs. Für 10 Mann gab es pro Tag – ein Brot. 3 oder 4 schmale Scheiben. Und das war das Hauptnahrungsmittel! Mittags gab es einen Suppenteller voll heisses Wasser, in dem 3 oder 4 Scheiben Karotten schwammen. Abends dasselbe. 2 oder 3 Mal die Woche auch Fleisch, d. h. pro Mann zwei Stückchen, so gross wie ein Bouillonwürfel.“

Paul Westheim hat das fragmentarische Manuskript nie publiziert.


Paul Westheim, geb. 1886 in Eschwege, gest. 1963 in Berlin/West. Kunstschriftsteller, Kunstkritiker, Herausgeber der Zeitschrift "Das Kunstblatt". März 1933 Flucht nach Paris, 1935 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft, 1939–1940 Internierung, 1941 in Marseille und Cassis-sur-Mer, Visum für Mexiko durch das Emergency Rescue Committee (Varian Fry), November 1941 Reise über Marseille und Lissabon nach Veracruz, bis 1963 Wohnsitz in Mexiko-Stadt, Westheim stirbt bei seinem ersten Besuch in Deutschland.


Gezeigt in der Ausstellung "Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen", 15.10.2016 – 15.1.2017