Zum Film Nachrede auf Klara Heydebreck. Welche Spuren 
hinterlässt ein Mensch?

Arbeitslosengrundkarte der BVG, an Klara Heydebreck, 1956

Arbeitslosengrundkarte der BVG, an Klara Heydebreck

Anfang März 1969 flog Eberhard Fechner mit einem kleinen Drehteam nach Berlin. Sein Auftrag: ein Dokumentarfilm über den Selbstmord eines alten Menschen und die Frage nach den Ursachen und Motiven der Tat. Berlin war als Drehort ausgesucht worden, weil es hier die höchste Zahl an Selbstmorden in der Bundesrepublik gab. Vorab hatte Fechner bereits Kontakt zur Berliner Polizei aufgenommen.

Früh am Morgen des 11. März 1969 machten sich dann Eberhard Fechner und sein Kameramann Rudolf Körösi auf den Weg zur Mordkommission in der Berliner Keithstraße. In der Nacht war noch einmal Schnee gefallen, so dass sie nur langsam vorankamen. Kaum hatten sie das Polizeirevier erreicht, kam ihnen sogleich, aufgeregt mit einem Zettel wedelnd, Kriminaloberrat Kleindien entgegen: „Herr Fechner, ich glaube, wir haben da einen passenden Fall für Sie!“

Der „Fall“ war der Selbstmord der Rentnerin Klara Heydebreck, einer alleinstehenden, unverheirateten 72-jährigen Frau. Am Tag zuvor hatte sie sich in ihrer kleinen Wohnung in den Sessel gesetzt und eine Handvoll Schlaftabletten der Marke Betadorm eingenommen. Gegen Abend war sie von der Feuerwehr gefunden worden, aber kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus gestorben. Sie war ohne erkennbares Motiv aus dem Leben geschieden.

Um sich vor Erwartungen oder vorgefassten Meinungen zu schützen, hatte Fechner auf eine ausgearbeitete Konzeption oder gar ein Drehbuch verzichtet. Das war nicht ohne Risiko, denn es war sein erster Dokumentarfilm. Zunächst jedoch ging es ihm um eine Bestandsaufnahme. Daher führte er mit seinem Team in den folgenden Tagen insgesamt 37 Einzelinterviews, im Krankenhaus, auf dem Polizeirevier, bei der Feuerwehr, mit ehemaligen Arbeitgebern, Verwandten, Nachbarn, ihrem Arzt und dem Kaufmann an der Ecke.

Sie konnten auch in der Wohnung drehen, in der Klara Heydebreck 56 Jahre gelebt hatte, seit sie dort mit 17 gemeinsam mit ihrer Mutter eingezogen war. Vor allem aber durften sie den Nachlass Klara Heydebrecks sichten, in dem sich erstaunlich viele Dokumente ihres Lebens befanden. Und so trat schon bald die ursprüngliche Absicht des Projektes – die Frage nach der Ursache des Selbstmordes – in den Hintergrund vor der Suche nach einem Menschen, nach einem Bericht von seinem Leben.

Zurückgekehrt nach Hamburg suchte Fechner gemeinsam mit seiner Cutterin Brigitte Kirsche nach einer geeigneten Form, aus dem gedrehten Rohmaterial das Leben der Selbstmörderin zu rekonstruieren. Sie fanden sie schließlich, indem sie die Fragen des Interviewers wegschnitten, die einzelnen Interviews zerlegten und neu mit den anderen auf eine Weise in- und zueinander montierten, dass sich eine Art Dialog ergab, der so nie stattgefunden hatte. Ergänzt oder korrigiert wurden die Aussagen durch Einblendungen der aufgefundenen Dokumente. Der nur sparsam eingesetzte Kommentar diente nicht der Bestätigung vorher aufgestellter Behauptungen, sondern lediglich der notwendigen Verbindung einzelner Aussagen, um einen lebendigen Erzählfluss zu entwickeln.

Diese Methode Fechners, einzelne frei verfügbare Versatzstücke aus dem ursprünglichen Zusammenhang zu reißen und sie neu mit anderen, passenden Schnipseln zu komponieren, ist in gewisser Weise manipulativ. Denn dadurch wird der Eindruck erweckt, dass die Interviewten sich aufeinander beziehen, dem scheinbaren Dialogpartner widersprechen oder ihn ergänzen. Doch gerade das trägt zur suggestiven Wirkung des Films bei.

Mit seinem Film Nachrede auf Klara Heydebreck kann und will Fechner dokumentieren, aber nicht kommentieren. Entstanden ist so eine stille, schöne und beeindruckende Rekonstruktion eines Lebens, für die Eberhard Fechner mit dem Adolf-Grimme-Preis mit Silber ausgezeichnet wurde.

In den letzten Szenen sieht man den neuen Mieter beim Ausmessen der Wohnung. Von den Möbeln will er keine übernehmen und gibt alles an einen Trödler. So ist der letzte Satz des Filmkommentars zugleich ein nüchternes Fazit: „… alles, was an Klara Heydebreck erinnert, (wird) ausgeräumt. Auf ihrem Postscheckkonto blieb ein Restguthaben von 6 Mark 49.“

Neben Fechners Film erinnern heute nur noch einzelne persönliche Dokumente, wie die abgebildete Arbeitslosengrundkarte der BVG, an Klara Heydebreck. Der Filmemacher hat sie aufbewahrt, und sie ist heute Bestandteil des Eberhard-Fechner-Archivs in der Akademie der Künste. Eberhard Fechner, 1984 Gründungsmitglied der Sektion Film- und Medienkunst, und seine Frau und langjährige Regieassistentin Jannet Fechner haben sein Archiv der Akademie der Künste in ihrem Testament vermacht. Nach Jannet Fechners Tod kam das Archiv im Jahre 2016 hierher.

Mit einem Umfang von 44 laufenden Metern zählt es zu den größeren Archiven. Es enthält zahlreiche Drehbuchfassungen, Fotos von den Dreharbeiten, Produktionsunterlagen und eine umfangreiche Korrespondenz von mehreren tausend Blatt, u. a. mit Günter Grass, Walter Jens, Egon Monk und Walter Kempowski. Vor allem aber die vollständigen Interviews, über 1.500 Stunden Tonbandaufnahmen, mit den Protagonisten seiner Dokumentarfilme wie Comedian Harmonists, Der Prozess oder Wolfskinder. Da die Interviews nur zu einem geringen Teil in die Filme eingegangen sind, besitzen diese Aufnahmen einen großen Quellenwert. Gegenwärtig wird intensiv an der Erschließung des Archivs gearbeitet. Wenn es am 1. Dezember 2017 mit einer Veranstaltung im Akademie-Gebäude am Pariser Platz feierlich eröffnet wird, steht es nahezu vollständig der Forschung zur Verfügung.

Doch das Archiv wird auch selbst forschen und publizieren. So ist für 2019 ein Band über Eberhard Fechner in der neuen Schriftenreihe „Fernsehen. Geschichte. Ästhetik“ geplant. Auch sind mit Beteiligung des Archivs bereits DVD-Editionen der Filme Der Prozess, Damenstift und La Paloma erschienen. Weitere Filme werden in den nächsten Jahren folgen.

Autor: Torsten Musial, Leiter des Archivs Film- und Medienkunst der Akademie der Künste, Berlin.

Erschienen in: Journal der Künste 03, Juli 2017, S. 46-47