13.12.2017, 10 Uhr

„Im Jahr 1977 lebte ich in beiden Berlin“ – Emine Sevgi Özdamar im Archiv

Bild 5. Dorfstraße, aus dem Skizzenbuch von Emine Sevgi Özdamar zu Heiner Müller Die Bauern, Volksbühne Berlin, 1976

Emine Sevgi Özdamar, aus der Türkei stammende deutschsprachige Autorin, Schauspielerin, Regisseurin und bildende Künstlerin, übergab den ersten Teil ihres künstlerischen Vorlasses an das Literaturarchiv der Akademie der Künste.

Die „beiden Berlin“, von denen in einer autobiographisch grundierten Erzählung Özdamars die Rede ist, das sind eine Wohngemeinschaft in West-Berlin und die Volksbühne in Ost-Berlin. Beide Teile der Stadt werden von ‚außen‘ gesehen: Die Perspektive der aus der Türkei stammenden Autorin, analytisch, anteilnehmend, mitunter ironisch, macht die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen.

Nach einem ersten Aufenthalt im Westteil der Stadt 1965-1967 hatte Emine Sevgi Özdamar in Istanbul eine Schauspielschule besucht und am Theater gearbeitet. Angesichts der politischen Situation in der Türkei nach dem Militärputsch 1971 kehrte sie Anfang 1976 nach Berlin zurück, um, wie es im Roman Seltsame Sterne starren zur Erde heißt, „das Brechttheater zu lernen“. Benno Besson, Intendant der Volksbühne, gestattete es gern: Emine Sevgi Özdamar begleitete die Proben zur Uraufführung von Heiner Müllers Die Bauern, der Neufassung des 1961 nach nur einer Aufführung verbotenen Stückes Die Umsiedlerin. Sie unterstützte den Regisseur Fritz Marquardt, hielt die Proben minutiös und anschaulich in Skizzen und Texten fest – ein Beispiel ist hier zu sehen – und übernahm auch eine kleine Rolle. Später arbeitete sie mit Benno Besson und Matthias Langhoff in Paris. 1979 bis 1984 war sie am Schauspielhaus Bochum engagiert, wo sie 1986 bei der Uraufführung ihres ersten Theaterstücks Karagöz in Alamania selbst Regie führte. Theaterarbeit mit Ruth Berghaus, Franz Xaver Kroetz und Einar Schleef folgte.

Doch dann trat die Autorin Özdamar stärker in den Vordergrund. Seit 1986 lebt Emine Sevgi Özdamar als freie Schriftstellerin, sie schreibt auf Deutsch, das von ihrer türkischen Muttersprache geprägt ist, Prosa und Dramatik. Neben zwei Bänden mit Erzählungen – Mutterzunge (1990), Der Hof im Spiegel (2001) –, steht die umfangreiche Romantrilogie Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus (1992), Die Brücke vom Goldenen Horn (1998), Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding – Pankow 1976/77 (2003). Texte Özdamars wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter Türkisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Griechisch, Polnisch und Schwedisch. Seit 2007 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seit 2017 gehört sie der Sektion Literatur der Akademie der Künste Berlin an. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis (1991), den Kleist-Preis (2004), den Fontane-Preis (2009) und Einladungen zu Gastprofessuren in Hamburg, New York und Paris (Sorbonne).

Im Emine-Sevgi-Özdamar-Archiv sind nun Werkmanuskripte, Notiz- und Skizzenbücher aus der Arbeit an der Volksbühne Berlin und anderen Bühnen seit 1976, Korrespondenz, Material zu Lesereisen, Belegdrucke ihrer Werke, auch in bibliophilen Ausgaben, sowie Sekundärliteratur zu finden und laden zu Entdeckung und Auseinandersetzung ein.

Kontakt: Helga Neumann