Bjørn Melhus, FREEDOM & INDEPENDENCE, 2014, Filmstill, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Schnitte

Filme, Lesungen, Hörspiel

Ein Abend zur künstlerischen Methode des Schnitts: Ulrich Gerhardt entwickelte aus Rolf Dieter Brinkmanns Textcollagen Schnitte ein Radiostück, das auf akustische Entsprechungen zielt. Katja Lange-Müller, Kathrin Röggla, Kathrin Schmidt, Katharina Schultens und Ulf Stolterfoht beziehen sich in ihren Lesungen auf diese Methode.

Dass ein Film ohne Schnitt und eine Erzählung ohne narrative Montage entstehen kann, demonstriert das Kurzfilmprogramm mit Arbeiten von Dieter Appelt, VALIE EXPORT, Christoph Giradet und Matthias Müller, Jochen Kuhn, Bjørn Melhus, Marcel Odenbach, Ulrike Rosenbach, Zbigniew Rybczyński, Klaus vom Bruch.

Letztmalig öffnen wir mit der Finissage die RaumKlangIntervention „5-5-5-5 cut Raimund Kummer / Daniel Ott“ – ein musikalisch-choreografisches und visuell-bildhauerisches Spiel. Die RaumKlangIntervention lädt die Besucher*innen zu räumlichen und auditiven Entdeckungen ein, im Live-Moment der Begegnungen mit den Musiker*innen, Skulpturen-Fragmenten und Videoprojektionen.

Kurzfilmprogramm

VALIE EXPORT: Mann & Frau & Animal, 1970–73, 8 min

Die österreichische Künstlerin, eine der wichtigsten Vertreterinnen feministischer und medienkritischer Werke, wurde 1968 mit ihrem damaligen Partner Peter Weibel durch die Straßenaktion des Tapp- und Tastkinos bekannt, in der sie ihren nackten Busen in einem Kasten mit zwei Öffnungen zur Berührung anbot. In ihrem Film Mann & Frau & Animal setzt sie sich ironisch mit dem Kino als Projektionsraum männlicher Phantasien auseinander. Tabus wie das Onanieren mit dem Strahl der Dusche in der Badewanne, eine Vagina mit Blut, Spermen und der Zustand der Menstruation werden thematisiert und filmisch im Schnitt aus drei Teilen zusammengefügt.

„Es ist nicht erlaubt, im Fernsehen oder im kommerziellen Kino zu zeigen, wie ein Mann Samen ausstößt, man darf aber eine Geburt zeigen.“ (VALIE EXPORT im Gespräch mit Helke Sander, 1976)

Dieter Appelt: Image de la vie et de la mort, 1983, 6:35 min

Man sieht Dieter Appelt, der als Opernsänger begann und als Fotograf und Aktionskünstler mit seinen rituellen Selbstinszenierungen bekannt wurde, wie er sein eigenes mit einer Gipshaut umhülltes Gesicht mit einem Faden unter der angetrockneten Schicht zu zerschneiden scheint und eine vertikale Linie und optische Zweiteilung des Körpers hinterlässt. Diese Aktion, die von Geräuschen singender Zikaden grundiert ist, assoziiert eine Häutung aus einem zu eng gewordenen Panzer. Appelts Auseinandersetzung mit Leben und Tod, die seine gesamte künstlerische Arbeit prägt, verdichtet sich in besonderer Weise in diesem Film, der auch als vertikale Fotosequenz realisiert wurde und auf ein Motiv der Arbeit La cuve a l’eau zurückgeht.

Klaus vom Bruch: Das Duracellband, 1980, 12 min

Der Medienkünstler Klaus vom Bruch wurde mit dem Videotape Das Schleyerband (1977/78) bekannt, in dem er einen Mitschnitt des Polizeifunks über den ersten Tag der Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF verwendete. Charakteristisch für seine Arbeitsweise ist die Aneignung von Fremdmaterial. In Duracellband führt das zu einer extremen Videocollage, bestehend aus einem Werbespot, Bildern von Nagasaki, einem amerikanischen Piloten und dem Selbstporträt Klaus vom Bruchs. Das Selbstporträt wurde während einer Aktion auf der 11. Biennale de Paris, 1980, eingeschnitten. Klaus vom Bruch bildete zusammen mit Ulrike Rosenbach und Marcel Odenbach in den 1970er-Jahren die Produzentengruppe ATV.

Ulrike Rosenbach: Puzzle Solution?, 2019, Video, 10 min

Ulrike Rosenbach begann als Bildhauerin und arbeitet seit 1972 mit dem damals neuen Medium Video. Auch in ihrem Video Puzzle Solution? setzt sie sich kritisch mit dem Bild der gescheiterten Frau in der westlichen und bürgerlichen Tradition auseinander und greift bekannte Themen der Kulturgeschichte auf. Ausgehend von dem Romanstoff Effi Briest von Theodor Fontane werden in der Bildcollage, die die Problematik in Bild und Ton mit unterschiedlichem Film- und Fotomaterial zitiert, Gedanken, Beobachtungen und Bilder künstlerisch verarbeitet und mit filmischen Einstellungen eigener Arbeiten collagiert. Ulrike von Rosenbach bildete zusammen mit Klaus vom Bruch und Marcel Odenbach in den 1970er-Jahren die Produzentengruppe ATV.

Christoph Giradet und Matthias Müller: personne, 2016, 15 min

Beide Künstler haben in ihrer Zusammenarbeit seit 1999 einen komplexen Kosmos an Found Footage-basierten Filmen geschaffen, in denen sie die Grammatik des Genrekinos untersuchen. Es sind vor allem die Hollywood-Mainstream-Filme, die mit ihren universellen Zeichen, Stereotypen und Erzählmustern auf Vertrautheit und Verkäuflichkeit setzen, die Giradet und Müller im Visier haben. Akribisch sammeln sie unzählige erzählerische Varianten, Ton und Bild werden getrennt und neu orchestriert. Ein diffiziles Spiel mit unserer eingeübten Wahrnehmung beginnt. In personne konfrontieren Müller und Giradet den Star des französischen Kinos Jean-Louis Trintignant, der mit unbewegter Miene viele der Kriminalfilmklassiker prägte, mit den Spielweisen eines Gregory Peck oder Henry Fonda.

„Personne – das ist jemand und niemand und irgendwer. Das sind wir selbst im Laufe der Zeit. Unentwegt, vergeblich. Das Ich bleibt notwendige Selbstbehauptung.“ (Girardet und Müller)

Zbigniew Rybczyński: Tango, 1981, 8 min

Der Animationsfilm des polnischen Experimentalfilmers Zbigniew Rybczyński gehört zu den Klassikern des Avantgardefilms. Das Setting ist denkbar einfach: ein Zimmer, in dem verschiedene Personen verschiedene Handlungen ausführen und repetitiv wiederholen – untermalt und rhythmisiert durch das musikalische Motiv eines Tangos. Schlussendlich agieren 36 Akteure, die den Lebenszyklus von der Geburt bis zum Tod verkörpern, auf engstem Raum in einer verblüffenden und komplexen Choreografie, ohne Überschneidungen oder Behinderungen. Dieses Kunststück gelingt Rybczyński durch die Kombination von 16.000 gemalten und gezeichneten Vorlagen, die analog in einem aufwändigen Prozess montiert wurden. Raum und Zeit werden neu definiert.

Jochen Kuhn: Sonntag 3, 2010, 13 min

Jochen Kuhns Anfänge liegen in der Malerei. In seinen Animationsfilmen erprobt er die Möglichkeiten des Mediums, Malerei und Film miteinander zu verschmelzen und interagieren zu lassen. Er malt, klebt, collagiert, verwischt, übermalt, greift händisch ins Material ein und führt so die Narration mit dem ihr eigenen Flow voran. Die Atmosphäre ist vage. In jedem Bild ist der Akt der Zerstörung oder Verwandlung in ein anderes per se eingeschrieben. Dieser fluiden, beunruhigenden Bildsprache setzt er den sanften Tonfall seiner Erzählstimme gegenüber. In Sonntag 3 hat der Protagonist ein Blind Date. Zu seiner Überraschung ist es Angela Merkel, die er trifft. Anlass für milde und ironische Spekulationen über Gefühle und Bedürfnisse einer Politikerin.

Marcel Odenbach: Wer leidet, der schneidet, Wer schneidet, der leidet, 2019, 9:30 min

Marcel Odenbach verwendet in seinen Videos, Schnittvorlagen und großformatigen Papiercollagen Schnitttechniken des Aneinanderfügens von Bildern und Texten von Ereignissen aus Zeitungen und Zeitschriften und setzt sich in seinen Arbeiten mit der deutschen Geschichte des Kolonialismus, der Sklaverei und des Rassismus auseinander. Anlässlich der Ausstellung „John Heartfield – Fotografie plus Dynamit“ in der Akademie der Künste (2020) entwickelte er dieses Video als räumliche Montage und gibt ihr in Erweiterung des Ausspruchs von Jean-Luc Godard „Schnitt, meine schöne Sorge“ den Titel: Wer leidet, der schneidet, Wer schneidet, der leidet. Hitler und Göring als Gegenbilder und ein von der Polizei auf der Straße niedergeschlagener Protest sind Momentaufnahmen der Videomontage, die mit eigenen Aufnahmen in Heartfields Sommerhaus, Text und Sound, zusammengeschnitten werden. Odenbach bearbeitet Fundstücke des Realen, u. a. durch Ausschnitte, Großaufnahmen, koppelt sie mit sogartigen Klängen, propagandistischen Wortfetzen, trennt und führt Ton und Bild zusammen und schafft über die rhythmische Versetzung von Spiegelbildern kaleidoskopartige Panoramen. Marcel Odenbach bildete zusammen mit Klaus vom Bruch und Ulrike Rosenbach in den 1970er-Jahren die Produzentengruppe ATV.

„Mir war von Anfang an der Ton so wichtig wie das Bild. Das heißt: ich habe Bilder gesammelt und ich habe Töne gesammelt. Und irgendwann sind die Bilder zu den Tönen gekommen oder die Töne zu den Bildern. Ich habe durch Film sehr schnell verstanden, wie man durch Ton das Bild beeinflussen und manipulieren kann.“ (Marcel Odenbach)

Bjørn Melhus: FREEDOM & INDEPENDENCE, 2014, 15 min

Der experimentelle Kurzfilm FREEDOM & INDEPENDENCE von Bjørn Melhus hinterfragt den gegenwärtigen globalen ideologischen Paradigmenwechsel hin zu neuen Formen des religiösen Kapitalismus, indem er Ideen und Zitate der selbsternannten objektivistischen Philosophin und Romanschriftstellerin Ayn Rand mit evangelikalen Inhalten des US-amerikanischen Mainstream-Films konfrontiert. Dieses zeitgenössische Märchen, in welchem Melhus alle Figuren selbst verkörpert, wurde teilweise in einem Berliner Leichenschauhaus und in neuen städtischen Umgebungen in Istanbul gedreht. Vor dem Hintergrund einer unergründlichen Megalopolis, in einer Geschichte, die den assoziativen Qualitäten einer Traumlogik folgt, zitieren die Protagonisten aus Konzepten des neoliberalen Elitismus und einer Mischung aus religiösen Wahnvorstellungen und Halluzinationen der Apokalypse.

5-5-5-5 cut Raimund Kummer / Daniel Ott, RaumKlangIntervention, Akademie der Künste, Berlin 2025

5-5-5-5 cut Raimund Kummer / Daniel Ott, RaumKlangIntervention, Akademie der Künste, Berlin 2025

Samstag, 17.5.

20 Uhr

Pariser Platz

Finissage „5-5-5-5 cut Raimund Kummer / Daniel Ott“

Mit Katja Lange-Müller, Kathrin Röggla, Kathrin Schmidt, Katharina Schultens, Ulf Stolterfoht u. a.

Mit Filmen von Dieter Appelt, VALIE EXPORT, Christoph Giradet und Matthias Müller, Jochen Kuhn, Bjørn Melhus, Marcel Odenbach, Ulrike Rosenbach, Zbigniew Rybczyński, Klaus vom Bruch

€ 10/7