Konrad-Wolf-Preis 2010 an Alvis Hermanis

Preisverleihung

Ich glaube nicht, dass Theater in der Lage ist, die Welt zu verbessern. Mit einem Mobiltelefon kann man ja auch keine Fliegen erschlagen. Und wenn man zuhause einen Hund oder eine Katze hat, versucht man nicht, mit ihnen das letzte Buch zu diskutieren, das man gelesen hat. Obwohl das Theater ebenso wenig zur Unterhaltung taugt. Das Wichtigste für mich ist der Kampf mit mir selbst. Beim Theatermachen untersuche ich meine ganz eigenen, privaten Probleme. Alvis Hermanis

Für den lettischen Schauspieler und Theaterregisseur Alvis Hermanis (geb. 1965 in Riga) ist das Leben selbst das Drama. Mit seinem Neuen Theater Riga (Jaunais Rīgas Teātris), aber zunehmend auch mit Ensembles im deutschsprachigen Raum (den Münchner Kammerspielen, dem Schauspiel Köln oder dem Wiener Burgtheater) erforscht er auf der Bühne den Alltag der Alten und Einsamen, der Passanten und Nachbarn. Mal auf literarischer Grundlage wie Texten von Isaac B. Singer oder Tatjana Tolstaja, mal mit Theaterstücken wie "Eine Familie" von Tracy Letts, häufig aber auch als Ergebnis eigener Recherchen des Ensembles wie in "Kölner Affäre" (2008) oder unter Einbeziehung der Schauspielerbiografien wie in "Väter" (Zürich, 2007).


Alvis Hermanis bei der Preisverleihung. Foto: Amélie Losier

Stilistisch sind diese Arbeiten so unterschiedlich wie die Gesellschaftsschichten, die sie beleuchten - für jeden Stoff sucht Hermanis eine angemessene Form. In "Ruf der Wildnis", seiner jüngsten Arbeit, die im Oktober 2010 an den Münchner Kammerspielen herausgekommen ist, sitzen die Darsteller auf Sofas, die auf einem Patchwork aus Wohnzimmerteppichen im Halbkreis angeordnet sind und erzählen die Biografien von Münchner Hundebesitzern von nebenan. Die Vorlage von Jack London, das Motiv vom Hund, der den Wolf in sich entdeckt, wird ganz persönlich durchdekliniert - echte Schoßhunde und Selbstzerfleischung der Schauspieler inklusive.


Die Laudatoren: Dagmar Manzel und Klaus Völker. Foto: Amélie Losier

Für seine innovative, forscherisch-fordernde und dabei ungemein intensive Schauspielerarbeit haben Christian Grashof, Dagmar Manzel und Klaus Völker, die Jury des diesjährigen Konrad-Wolf-Preises, Alvis Hermanis ausgewählt.

Programm
Begrüßung: Nele Hertling
Filmvorführung: Ausschnitte aus verschiedenen Arbeiten von Alvis Hermanis
Laudatio: Dagmar Manzel und Klaus Völker
Gespräch mit Alvis Hermanis, Gundega Laivina (New Theatere Institute of Latvia) und  Nele Hertling
Gast: Michael König

Eintritt frei

Aus der Begrüßungsrede von Nele Hertling

in der die Vizepräsidentin der Akademie an den Weg der Annäherung erinnert, den west- und osteuropäische Künstler in den letzten zwanzig Jahren gemeinsam gegangen sind:  

"(...) Ich spreche besonders gern aus diesem Anlass, da ich aus meiner früheren Tätigkeit im Hebbel-Theater Alvis Hermanis schon vor vielen Jahren kennenlernte. Im Rückblick ist es überraschend, festzustellen, dass internationale Zusammenarbeit und Koproduktion zwischen kulturellen/künstlerischen Institutionen, Initiativen, Künstlern und Kompanien im Bereich der Darstellenden Künste selbst in den späten 70er Jahren noch eher ungewöhnlich und selten war.


Nele Hertling. Foto: Amélie Losier

Der Prozess der Kooperation entwickelte sich nur langsam, Schritt für Schritt - angetrieben vor allem von dem Bedürfnis der Künstler überall in Europa und der Welt, neue Ausdrucksmöglichkeiten und -orte für ihre Vorstellungen und Ideen zu finden. Neue Partnerschaften entstanden und führten zur Gründung von Netzwerken (das bekannteste bis heute das IETM: Informal European Theatre Meeting), die neue, nicht hierarchische Begegnungsformen, Informationsaustausch und intensives gegenseitiges Kennenlernen ermöglichten. Zunächst nur für Westeuropäer zugänglich, änderte sich dies nach dem Mauerfall 1989 sehr schnell. Informationen flossen, trotz mancher Restriktionen, zwischen Ost und West, aber auch - und dies war lange Jahre fast unmöglich - zwischen Ost und Ost.

In den späten 90er Jahren entstand auf Anregung von Bernard Faivre d´Arcier, Direktor des Festivals von Avignon, ein neues Netzwerk unter dem Namen Theorem, mit der Aufgabe, durch vielfältige Begegnungen in unzähligen Reisen verschiedener europäischer Theater- und Festivalleiter, das junge, sich eher unabhängig entwickelnde Theater in Mittel- und Osteuropa zu entdecken und zu erforschen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu finden.

Theorem hat nicht behauptet, "Osteuropa" entdeckt zu haben, aber es ermöglichte bisher ungekannte Aktivitäten zwischen vielen Teilnehmern und dies mit der Absicht für einen kontinuierlichen Prozess. "Mit jeder Reise wurde Theorem wahrhaftig europäisch, wobei es den jeweiligen Charakter des Landes respektierte. Im Vorangehen erfuhren wir die Unterschiede. Wir hatten nicht immer die selben Visionen, aber wir wurden eine europäische Gruppe, ohne unsere spezifischen Identitäten und Strategien zu verlieren." (Faivre d´Arcier)

Theorem hatte seine eigenen Regeln, zu allererst die Freiheit des Künstlers zu respektieren, niemals den Charakter einer Vorstellung den Zwängen des internationalen Gastspielbetriebes anzupassen. Vorstellungen mussten in ihrer eigenen Sprache gezeigt werden und die jeweiligen Premieren im eigenen Land stattfinden. Künstler sollten unterstützt werden, um im eigenen Land für ihr eigenes Publikum arbeiten zu können. Dies wäre heute übrigens auch noch häufig notwendig.


Gundega Laivina vom New Theatre Institute of Riga und Alvis Hermanis. Foto: Amélie Losier

So entstanden, in wechselnden Koproduktionen, großartige Aufführungen, die nach anfänglicher skeptischer Zurückhaltung das internationale Publikum begeisterten und zu Einladungen in alle Welt führten. Regisseure, Schauspieler, Choreographen wie Árpád Schilling aus Ungarn, Grzegorz Jarzyna und Krzysztof Warlikowski aus Polen, Peter Jalakas aus Estland, Oskaras Koršunovas aus Litauen gehören heute zu den weltweit renommierten Theaterkünstlern. (Eine Aufgabe heute wäre es, der nächsten jungen Generation eine ähnliche neugier und Aufmerksamkeit zu sichern.)

Für uns in Berlin lag ein besonderes Interesse beim Theater in Riga, wo wir höchst kreative junge Regisseure und glänzende Schauspieler fanden und in Berlin zu zeigen versuchten. Es war nicht immer leicht zueinander zu finden, gegenseitige Vorurteile abzubauen - Der reiche Westen kauft den armen Osten oder Der Osten ist altmodisch und folkloristisch -, aber im Laufe des Kennenlernens entwickelte sich Verständnis, Freundschaft und Neugier. Die Vorstellungen des New Riga Theatre waren wunderbare Entdeckungen für ein interessiertes Publikum und sind es, unter der Leitung von Alvis Hermanis, bis heute geblieben. 

Es gab noch eine weitere besondere Verbindung zu Riga mit seinem New Theatre Institute, deren Leiterin Gundega Laivina (im Bild links) heute bei uns ist, Nach einigen komplexen und ereignisreichen Jahren des Theorem Netzwerkes und einer verlängerten Unterstützung durch die EU beschlossen die Mitglieder, das erste gemeinsame Büro von Paris nach Riga zu verlegen. Das war das erste EU-geförderte große Projekt, das seinen Sitz in einem "östlichen" Land fand! Eine große Chance für die weitere Verbreitung der Arbeit, mit der neue Partner aus Kroatien, Estland, Litauen, Mazedonien und Slowenien dazukommen konnten. Mit vielen neuen Aktivitäten wurde Theorem zu der Zeit ein einzigartiges, flexibles Instrument für die Zusammenarbeit in Europa und damit zu einem Modell für den so wichtigen, aber auch schwierigen Weg des Zusammenwachsens.

Mir war es wichtig, diese Geschichte zu erzählen. Heute ist es schon fast selbstverständlich, Kunst und Künstler aus unseren östlichen Nachbarländern in den Programmen unserer Kunstinstitutionen zu finden. Doch es war ein schwieriger und manches Mal auch schmerzhafter Weg. Die Kunst, der wir so begegnen können, ist eindrucksvoll, oft überraschend in ihrer intensiven Ausdrucksform, erzählt oft ihre ganz eigene Geschichte. Das ist es auch, was Alvis Hermanis zu einem bewunderten Preisträger des Konrad-Wolf-Preises macht.

Herzlichen Glückwunsch, Alvis!"


Von links: Michael König, Klaus Völker, Dagmar Manzel, Alvis Hermanis, Nele Hertling. Foto: Amélie Losier

Dienstag, 14.12.2010

20 Uhr

Hanseatenweg

Studio

Preisverleihung mit Gästen. Laudatio Dagmar Manzel, Klaus Völker. Eintritt frei