2002

Renate Anger

Renate Anger, Foto: Inge Zimmermann

Malerei ist für Renate Anger ein räumliches Ereignis, ganz gleich, welchen Träger sie für ihre Farben und welches Ritual für den Auftrag wählt. Ihr Werk demonstriert die Eigenmacht der Malerei, die durch Reduktion und Wiederholung von Farbe und Form, durch Dichte und leuchtende Intensität zustande kommt. Ungrundierte Leinwände überzieht die Künstlerin mit breiten, dynamischen Pinselstrichen, mit dichten und überlappenden Farbgittern oder Punktrastern und zeigt hierbei eine besondere Vorliebe für eigenwillige Farb- und Formkombinationen. In architekturgebundenen Raumarbeiten vollzieht Renate Anger situative Eingriffe, die das Kolorit und die gesetzmäßige Struktur von Interieur und Architektur unterstreichen.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„In ihrer Souveränität bleibt diese Malerei immer auch unfixierbar, eine Bewegung in ihrem eigenen Medium, die Reflexion der Poetik des Machens.“ (Auszug Laudatio)

„Ein Punkt kann so einfach,

schlicht und rund daherkommen, ist voll da,
und meint nichts anderes als er ist.“
 – Renate Anger

Renate Anger bezeichnet sich selbst als Malerin. Man könnte sie aber, wollte man den üblichen Gattungsgrenzen folgen, je nach Kontext auch als Installationskünstlerin, Fotokünstlerin, intermediale Künstlerin oder als Konzeptkünstlerin bezeichnen. All dieses stimmt und wird ihr allein doch nicht gerecht. Renate Anger lässt sich nicht so einfach einordnen und kategorisieren. Hinter ihren Bildern, Wandmalereien, Arbeiten hinter Glas, raumbezogenen Inszenierungen und Fotoarbeiten steht ein ganz bestimmter Blick auf die Dinge. Sie sieht und arbeitet mit dem Auge der Malerin, was nicht unbedingt bedeutet, dass Malerei auch das Ergebnis sein muss. Die Künstlerin verbindet Farbe, Licht und Material in oft verblüffend einfacher und direkter Art und Weise und schafft gerade dadurch komplexe Zusammenhänge, da das Altbekannte nicht mehr im üblichen Kontext steht und neue Bezüge geschaffen werden.

Renate Anger hat für die Dinge, die sie für ihre Arbeit verwendet, immer auch einen teilnehmenden Blick. Ein gefundener Schmetterlingsflügel, das Inventar aus dem Nachlass einer DDR-Kantine oder eine verblühte Pflanze sind für sie zwar das, was sie sind, aber sie gibt ihnen einen neuen Raum, ein anderes Umfeld oder auch nur einen passenden Rahmen. Und so sieht auch der Betrachter das Alltägliche mit anderen Augen. So etwa, wenn sie eine Reihe roter Äpfel auf einem Kaminsims drapiert und die Wände des ansonsten leeren Zimmers dazu grün anmalt. Nicht ein beliebiges Grün, sondern genau das richtige Grün einer natura morta, in der die Natur tatsächlich welkt und die allein verbleibenden Wände auf die Vergänglichkeit nicht nur der Natur sondern auch der Kunst hinweisen. Die Themen der Vergänglichkeit tauchen immer wieder in Renate Angers malerischer Welt auf, die das Schöne zeigt, es aber mit hintergründiger Ironie auch wieder als etwas Künstliches entlarvt. Der Blick hinter die Dinge spiegelt sich auch in ihren Raumarbeiten wieder. Oft versieht Renate Anger großflächig Fenster mit starken Farben, die den zugehörigen Raum in neuem Licht erstrahlen lassen, aus einem profanen Zimmer einen fast sakral anmutenden Raum machen. Dabei spielt sie nie mit versteckten Karten. Nichts wird verborgen, es gibt keine virtuellen Geheimnisse, keine versteckten Manipulationen. Es gibt nur Farbe hinter Glas, Pigment auf Wänden und Böden. Man sieht, was ist und man sieht plötzlich alles anders. Renate Angers Stärke ist die Schaffung von Bildern, die neue innere Bilder entstehen lassen.

Seit über zwanzig Jahren geht die Künstlerin, die erst nach langjähriger Berufstätigkeit als Krankenschwester zum Kunststudium gekommen ist, ihrer Arbeit als Malerin nach. Dabei kümmert sie sich nicht um festgelegte künstlerische Definitionen, sondern verfolgt ihre persönliche Auffassung von Malerei. Für ihr eigenständiges und vielfältiges Werk hat ihr die Jury der Akademie der Künste einstimmig den Käthe-Kollwitz-Preis für das Jahr 2002 verliehen.

Christina Kubisch

Der Jury gehörten an: Matthias Flügge, Christina Kubisch und Micha Ullman

Laudatio, vorgetragen von Dorothée Bauerle-Willert anlässlich der Preisverleihung und der Eröffnung der begleitenden Ausstellung am 16. März 2002:

Wisse das Bild – für Renate Anger

Der klassische Ursprungsmythos der Zeichnung führt ihren Ursprung auf den Wunsch zurück, den Schatten des Kopfes des Geliebten auf der Wand zu fixieren: Ein Schattenriss, der dann vom Vater des Mädchens zum Relief vervollständigt wird. Das zeichnerische, malerische und plastische Festhalten steht immer schon im Zwielicht des Abschieds und der Vergänglichkeit, die Präsenz des Gegenstands wird ersetzt durch eine Spur, ein Supplement und geht doch zugleich über in ein das Sichtbare erweiterndes Sinnbild. Verlust und Erinnerung, Wahrnehmung und ihre Verzeitlichung, deren gleichzeitige Verräumlichung die taktile Raumerfahrung des Plastischen miteinbezieht, kreuzen sich in dieser Geschichte. Kunst und besonders die Malerei ist hier und seither eine Bewegung im Dazwischen, eine Bewegung der Vermittlung, wie sie in der Hinwendung zum Anderen zum Ausdruck kommt. „Die Rückwendung zum Anderen, die auch im Falle des verliebten Mädchens als Berührung dessen, was beinahe der andere selbst ist, dennoch zur Entfernung von anderen wird, ist konstitutiv für das Bild nicht nur als Festhalter einer Gegenwart, sondern auch als aktive Arbeit der Erinnerung“.1 Diese Bewegung im Zwischenraum ist vielleicht das Wesentliche von Renate Angers Kunst: Ganz wortwörtlich arbeitet sie zwischen dem Ding und seiner Malerei, arbeitet sie im Raum von außen und von innen. Zugleich bewegt sie sich, einer Freiheit preisgegeben, zwischen den Medien, der Malerei, der Fotografie, der raumbezogenen Inszenierungen; die Notwendigkeit des Mittels ergibt sich dann aus diesem Anderen, das sie mit ihrer Kunst berührt. Dabei werden diese Mittel, Farbe, Licht, Material ganz direkt, einfach und ohne Geheimnistuerei eingesetzt und schaffen doch die Entdeckung der Struktur des Sichtbaren, des Sichtbar-Machens als Passage im raumzeitlichen Sinn, als Übergang oder Durchgang zu anderen, latenten, imaginierten, assoziierten Bildern. Die Präsenz der Arbeiten Renate Angers haben ihren Grund gerade in dieser uneinholbaren Prozessualität des Sehens: Zu sehen geben, auch das, was sie nicht haben, die Zeitlichkeit anzuerkennen und zu gestehen. In ihrer Souveränität bleibt diese Malerei immer auch unfixierbar, eine Bewegung in ihrem eigenen Medium, die Reflexion der Poetik des Machens. Gerade im Wissen um das Malerische als einer Aktivität des Bildens, wie sie schon im Umgang mit den Trägern, mit Farben und Malwerkzeugen zum Ausdruck kommt, kann dann auch die Privilegierung eines Mediums aufgegeben und die Chance der wechselseitigen Steigerung genutzt werden, wie es hier im Raum durch die Fotografie geschieht. Nach Roland Barthes ist das Punctum eines Fotos das Zufällige an ihm, etwas was das Bild aufreißt, etwas das trifft, besticht, verwundet. Das äußerste Punctum, eines der Dichte, betrifft die Zeit, dieses erschütternde „es ist gewesen" und seiner reinen Abbildung. Eine Fotografie ist die Vergangenheit in der Gegenwart, ist das Vergangene und das Wirkliche zugleich – eine Katastrophe, die bereits stattgefunden hat. Das Foto als alltägliches Memento mori, als ein Zeichen des gewöhnlichen Todes: Diese Lesart, die die Schmetterlingsflügel-Fragmente begleitet, schlägt auch den Bogen zurück zum Anfang, zu der Trauerarbeit der Tochter des Töpfers und zu dem formenden, bildenden Vermögen des Bildes – ein offenes Changieren zwischen Sehen und Wissen: Wisse das Bild.

1. Michael Wetzel. Die Wahrheit nach der Malerei. München 1997, S. 25.